"Sie hat laut und vernehmlich "Leck mich" gesagt.
Dann ist sie aufgestanden und rausgerauscht."
"Bianca hat noch nie etwas anderes gesagt als "Leck mich."
"Ich rede nicht von Bianca. Ich rede von unserer Kollegin, Fräulein Muthesius.
Vorne nichts, hinten nichts, in der Mitte Linaeal."
"Du redest doch wohl nicht von von der ollen Mu?"
"Ja,und die hat "Leck mich"gesagt."
"Es reicht! lch will von dir einen kurzen,sachlichen Bericht der Konferenz über Biancas bevorstehenden Schulverweis, und du weißt nichts Besseres, als mir völlig abstruse, alberne Witze zu erzählen."
"Es sind keine Witze. Es war so, wie ich sagte: Die olle Mu hat als Einzige gegen Biancas
Schulverweis gestimmt. Dann ist sie aufgestanden, hat laut und deutlich "Leck mich" gesagt und ist rausgerannt."
"Noch mal: Es reicht. Ich hätte gern an der Konferenz teilgenommen, weil das letzte Jahr mit der Bianca-Gang die Hölle für mich war. Und jetzt kommst du mit diesem wirklich albernen Blödsinn und dir ist kein vernünftiges Wort zu entlocken."
" Es war so, wie ich sagte."
"Schluss jetzt. Blöde Kuh."
"Dumme Ziege."
"Ich leg jetzt auf."
"Ich auch."
"Du bist durchgeknallt." "Nein, du."
So endete das Telefongespräch zweier Junglehrerinnen der Wilhelm-Raabe-Hauptschule und vorläufig auch ihre Freundschaft.
eine Geschicht aber fängt jetzt an.
Fräulein Muthesius stand vor dem Spiegel und sah: Eine große, dünne, knöcherne Gestalt, vorne nix , hinten nix und in der Mitte Lineal, wie ihre männlichen Schüler sagten - von ebenso undefinierbarem Alter wie der gelb-blond-graue Ton ihrer kurzen Unfrisur nicht zu beschreiben war.
Innerlich und äußerlich von zeitloser Altjüngferlichkeit liebte sie die Farben Weiß und Blau, die sie mit der Eleganz einer vergangenen Epoche immer neu kombinierte.
Vor 50 Jahren hätte diese Bekleidung mit Wohlwollen vielleicht noch elegant genannt werden können. Im 21. Jahrhundert aber wirkte sie eher unpassend und merkwürdig, so dass die Spitznamen ihrer Schüler wie "Olle Mu, Heilige Mu, Queen Viktoria oder englisches Lineal" durchaus zutreffend waren.
Fräulein Muthesius entschied sich für etwas, das sie oft bevorzugte, nämlich den blauen Plisseerock und die weiße Bluse. Sie ging vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer, blickte an dem mit feinen Holzschnitzereien kunstvoll verzierten Louis-Quatorze-Sekretär vorbei, vorbei auch an den dunklen Mahagonistühlen, die sich um einen edlen, runden Tisch aus gleichem Holz gruppierten und geradewegs in die freundlichen Augen eines älteren Herrn, der, von Blattgold umrahmt, den Betrachter - gleichgültig, wo der sich befand - aus seiner ölgemalten Pracht gütig ansah.
"Die Kranken bedürfen des Arztes", hast du immer gesagt und :"Ein Hirte ist für die verlorenen Schafe da," sprach sie laut in das Blattgold ihres Herrn Papa, der, angesehener Leiter einer Klinik, seiner Tochter nicht nur die ansehnliche Wohnzimmereinrichtung, sondern auch die stahlblauen Augen und vor allem ein grenzenloses preußisches Pflichbewusstsein vererbt hatte.
"Ich glaube, ich muss gehen", sagte Constanze Muthesius in das Bild ihres Vaters hinein "und die Eltern von Bianca aufsuchen. Sie ist seit drei Wochen nicht mehr in der Schule erschienen, und ich bin immerhin ihre Klassenlehrerin."
Der Vater blickte - wie immer freundlich, aber auch ein bisschen geistesabwesend - aus seinem Öl und Fräulein Muthesius machte sich auf den Weg.
Auf der Treppe begegnete ihr die alte schwäbische Haushälterin und Kinderfrau, die, früher dem Vater und der Familie treu ergeben, nach dessen Tod jetzt bei ihr ihre Dienste tat.
"Es isch a Sauwetter", sagte die. "Wo wollet Sie denn hi?"
"Nach Brixdorf."
"Jau, dös isch a Saunescht. Dös isch nix für Sie. Selbst Ihr Herr Vater hat sich mol g'weigert, dort on Patienten onzusehen. So a Nescht isch des."
"Ich fahre trotzdem", entgegnete Fräulein Muthesius scharf. "Auf Wiedersehen, Frau Mitterzwei."
Die Haushälterin hatte mit der Bezeichnung 'Sauwetter' nicht übertrieben.
Ein unablässiger Regen aus gleichbleibend grauem Himmel tauchte Straßen und Häuser in ein melancholisches, undefinierbares, dunkles Licht, das sich auch nicht aufhellte, als der Regen nachließ.
Finsternis lag auf den Dächern der Häuser, auf den Bäumen und Sträuchern der Vorgärten und Finsternis lag auf den mürrisch-verschlossenen Minen der Menschen, die sich mit verbittertem Gesicht an ihre Regenschirme klammerten.
Fräulein Muthesius fror in ihrem Wagen, und sie erschrak beim Blick auf den Stadtplan: Brixdorf war nicht zu finden - offensichtlich nicht etwa ein ihr nicht bekannter Teil ihrer Heimatstadt, sondern weiter weg- eine Vorstadt oder ein völlig anderer Ort, erst nach längerem Suchen auf einer weiteren Landkarte zu finden, klein und bei dem schwachen Autolicht nur mit Mühe zu entziffern:
"Dies war keine Bildungsreise und erst recht keine muntere Spazierfahrt, sondern ein harter, unwegsamer Weg mit einem völlig unbekannten Ziel: Was wollte sie überhaupt dort? Biancas Eltern ins Gewissen reden, sie davon überzeugen, dass es eine Schulpflicht gibt, Nachsehen, ob Bianca krank ist, welche Krankheit sie hat, ob sie nur einfach schwänzt und warum?
Viel Mühe für einen Schülerin, unter der sie - ebenso wie die anderen Kollegen im letzten halben Jahr - nicht wenig gelitten hatte.
Und während Konstanze Muthesius den bekannten Weg aus dem Villenviertel über die Innenstandt auf die Landstraße zufuhr, gingen ihr Bilder der letzten Monate durch den Kopf: Bianca, wie sie, klein und mit einer schulterlangen Mähne gesegnet, in kniehohen Stiefeletten, Minirock und figurbetontem T-Shirt - immer zu spät in die Klasse geschritten kam. Hinter ihr ein Gefolge von Mädchen, die mit mehr oder weniger Erfolg Biancas Gang und Wesen nachahmten, die von den Lehrern so genannte Bianca-Gang.
Wie Bianca sich vorn rechts auf einen Platz neben das Fenster setzte und ihre langen Haare wirkungsvoll in die Heizung hängte. Wie sie sich dann aufreizend umdrehte, in müder Eleganz die Beine übereinanderschlug, ihre malerisch langen Lider vor den Augen schloss und in aller Beisein engelhaft und schön - einschlief.
Ach, und wenn ein Lehrer es wagte, sie anzusprechen und in ihrem so wirkungsvollen Schlaf zu stören, sagte sie erst einmal gar nichts. Auch beim zweiten und dritten Ermahnen blieb sie stumm entrückt.
Wurde Bianca dann noch einmal angesprochen oder sogar angeschrieen, öffnete sie in Zeitlupentempo ihre wunderschönen, blauen Augen und gab ihr ganzes Verbalrepertoire zum Besten.
Dies bestand aus zwei zugegebenermaßen recht eindeutigen Worten, die da hießen: "Leck mich!"
Mehr war ihr nicht zu entlocken. Auch Beschimpfungen vor der ganzen Klasse änderten nichts. Es blieb bei: "Leck mich!"
Fräulein Muthesius, aber auch alle anderen Lehrer standen diesem Verhalten ohnmächtig gegenüber.
Aber das allein war nicht das Schlimmste. Bianca hatte eine Gefolgschaft, das heißt, sie verfügte über einen Anhang von vier Schülerinnen, die ihr Verhalten nachahmten und auf Aufforderung auch nur: "Leck mich!" von sich gaben, und sie hatte - fast ausschließlich unter den Jungen - Claqueure zur Seite, die jedes "Leck mich!" mit lautstarkem, anerkennendem Lachen begleiteten.
Fräulein Muthesius hatte diese Gruppe als Klassenlehrerin wenigstens zwei Stunden am Tag und litt unter ihr wie alle anderen Lehrer auch.
Und jetzt war diese Schülerin drei Wochen lang dem Unterricht ferngeblieben und weder Telefonate noch Briefe hatten die Ursache ihres Fehlens aufklären können. In zwei Tagen sollte die Konferenz stattfinden und Bianca endgültig von der Schule verwiesen werden.
Und sie? Constanze Muthesius? Sie saß in ihrem Auto, machte die Sache des Aufsichtsamtes zu ihrer eigenen und fuhr ihrer Schülerin nach.
Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Dafür tauchte eine früh hereinbrechende Dämmerung Äcker und Felder in ein gespenstisches, unwirkliches Licht. Fräulein Muthesius musste raten: Waren diese Betonklötze rechts an der Landstraße Möbelzenter, Gartenzenter, Supermärkte?
Und kamen jetzt die Wohnghettos eins nach dem anderen, eins genauso wie das andere, eins schrecklicher als das andere?
Fräulein Muthesius kannte diese Landstraße nicht. Es es war ihr, als ob diese Gegend nichts mit der ihr vertrauten Kleinstadt und ihrem Umfeld gemeinsam hatte.
Nachdem sie sich drei Mal verfahren, drei Mal nach dem Weg gefragt und, wie es schien, eine Ewigkeit unterwegs gewesen war, kam sie an eine Tankstelle.
Fräulein Muthesius stieg aus und ging zu den Männern, die sich in der Tankstelle befanden.
"Können Sie mir sagen, wie ich nach Brixdorf komme? Der Mann an der Kasse meinte: "Do sin Se schon vorbi. Wo wullt Se denn hen?"
Fräulein Muthesius wunderte sich über die Frage. So klein konnte doch Bixstedt nicht sein, dass jeder wusste, wer wo wohnte, aber sie antwortete wahrheitsgemäß: "Zu einer Familie Kümmerling."
Der Mann an der Kasse sah sie von oben bis unten erschrocken an, und auch der andere, der Waren in die Regale einräumte, stutzte. "Wat wullt Se denn do?"
Fräulein Muthesius fand die Frage äußerst zudringlich, antwortete aber dennoch: "Ich habe diese Famlie aufzusuchen."
Die beiden Tankstellenmänner grinsten. Und einer meinte: "Do hefft Se Glück. De Weg zu Kümmerling is 800 Meter zurück. Rechts rein: 15 Minuten Fußweg. Denn kümmt Se an det Hus, det allein stoht."
"Darf ich rekapitulieren: "Ich fahre die Landstraße zurück. Dann kommt linker Hand ein Feldweg, und an dessen Ende steht das Haus, in dem die Famlie Kümmerling wohnt." "Exaktement", grinste der Mann an der Kasse, und Fräulein Muthesius marschierte in ihr Auto und fuhr los.
Die beiden Männer aber sahen sich an und lachten. "Wot die woll dor will? Und wat forn komischen Vogel. Entweder kommt die von der Heilsarmee oder von der Sitte. "Die Sitte war letzte Woche schon da. Ich kenne die Frau, und Kümmerling is immer vorgewarnt." "Na, denn will se wohl einen zwitschern." "Bei Kümmerling? Die? Na, du bist gut."
Wieder lachten die Männer, nichtahnend, dass die von ihnen als 'Komischer Vogel' Bezeichnete 10 Minuten später wieder in ihrer Tankstelle auftauchen würde. Dieses Mal weniger damenhaft und beherrscht. "Mein Auto ist auf der Landstraße stehen geblieben. Könnten Sie mal nachsehen, was nicht in Ordnung ist?" Die Männer sahen sich verdutzt an: "Es regnet, Mülädi. Die Kasse muss besetzt sein, und der hier hat gleich Feierabend und geht."
Fräulein Muthesius war verärgert. Die Männer überlegten: "Nu, wenn Se unbedingt zu Kümmerling wulln, denn loopt Se eben een Stündchen, und wenn hier nix los ist, go wi no Ihrn Auto sehn."
Fräulein Muthesius schluckte, atmete einmal tief und sagte leise: "Ja, wenn's gar nicht anders geht."
Dann machte sie sich auf den Weg und stöckelte auf ihren blauen Pumps die Landstraße entlang.
Der leise Nieselregen hatte sich inzwischen verdichtet und schickte undurchdringliche, dunkle Fäden auf die kalte Fläche der sich endlos und eintönig dahinziehenden Landstraße. Man sah jetzt weder Bäume noch Sträucher auf dem Weg. Nur die kalten Lichter der Randbegrenzungen.
Fräulein Muthesius ging Schritt für Schritt in einem Zustand, der so dunkel war wie alles um sie herum. Ein paar Minuten lang dachte sie daran, aufzugeben, sich an den Straßenrand zu setzen, einfach die Augen zuzumachen und einzuschlafen, bis irgendwann in der Nacht vielleicht die Männer kamen. Dann riss sie sich zusammen. Was hatte ihr Vater doch immer gesagt?" Konstantia ist die Standhaftigkeit. Und du heißt Konstanze." Hier stolperte Fräulein Muthesius und fiel der Länge nach hin. Ihr linkes Knie war aufgeschürft und hatte ein Loch in ihren Strumpf gerissen.
Sonst war nichts passiert. Sie sah den Feldweg links in die Landstraße einbiegen und stapfte weiter.
Der Weg war aufgeweicht vom Regen, ein dunkler Matsch, in dem die Schuhe von Konstanze Muthesius immer wieder steckenblieben.
Abermals fiel sie hin - dieses Mal der ganzen Länge nach in den Matsch, der, eine unförmige, klebrige Masse, an ihrem dunkelblauen Mantel hängen blieb. Sie zog ihre blauen Schuhe aus und humpelte auf Strümpfen weiter, kurz davor ,sich in den Matschweg zu setzen und aufzugeben. Doch als meinte, nun endgültig nicht mehr weiterzukönnen, sah sie in der Ferne ein Licht. Das musste zu dem Gebäude gehören.
Mitten in der Einöde stand es - das Haus der Familie Kümmerling. Fräulein Muthesius kam nun schneller voran. Sie hatte ihr Ziel vor Augen. Sicherlich einen nette Familie. Sie würden sie hereinbitten, ihr Tee und Kekse anbieten und von der Krankheit ihrer Tochter erzählen.
In Erwartung eines warmen Wohnzimmers stapfte Konstanze Muthesius - jetzt besserer Stimmung - zügig voran, bis sie schließlich an dem besagten Gebäude angekommen war.
Aber was war das?
Das Licht einer häßlichen, gelben Lampe, die vor dem Hauseingang hing und in ihrer kaputten Fassung unruhig quietschend hin- und herbaumelte, bot ein trostloses Bild: Links und rechts vom Eingang bogen sich schmutzige Pappbecher und Scherben von grünen Flaschen. An beiden Seiten des Hauses lagen unordentliche Müllhaufen, der Wandputz hing in langen Schlieren herab und ein Schwall von schwarzem, stinkendem Wasser floss rechts aus einer offensichtlich völlig kaputten Regenrinne. Fräulein Muthesius erschrak, aber, wie pflegte ihr Vater zu sagen? "Man muss das Innere sehen und nicht das Äußere, den Kern und nicht die Schale." Und so zog Konstanze Muthesius den verschmutzten Mantel aus und ihre Schuhe an, atmete tief durch und drückte auf einen lose herunterhängenden Klingelknopf. Niemand öffnete die Tür. Als auch nach dem dritten Läuten keine Reaktion kam, war Fräulein Muthesius' Hand schon auf der Türklinke.
Aus dem Inneren des Raumes, in den sie kam, schlug ihr eine Welle beizenden Tabakgestanks entgegen. Dazu der unverkennbare Geruch von Schnaps und Bier.
Das Zimmer war spärlich beleuchtet, und als Fräulein Muthesius endlich durch den Zigarettenqualm hindurchblicken konnte, sah sie eine Theke, die fast das ganze Zimmer ausfüllte. "Hier bist du falsch", war das Erste, was sie denken konnte. "Dies ist kein Wohnhaus, sondern eine heruntergekommene Kneipe, um nicht zu sagen, Kaschemme oder Übleres.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich gefasst hatte und sagte: "Ich suche die Familie Kümmerling. Bin ich etwa nicht richtig hier?"
Ein dicker, mittelgroßer Glatzkopf, der mit unnatürlich aufgedunsenem, groben Gesicht hinter der Theke stand, sah sie aus geschwollenen Augenlidern glasig ans. "Ne, Puppe! Hier biste goldrichtig.
Ik bin de Kümmerling. Setz dir uff den Hocker und trinke einen mit uns."
Erst jetzt bemerkte Konstanze Muthesius die beiden Männer, die links und rechts von der Bar mit leeren Blicken vor ihren Gläsern saßen, der eine groß und schwer, der andere klein und dürr.
Der Linksseitige schob Fräulein Muthesius einen Hocker hin. "Na, Mächen, setz dir doch. Hier is jemietlich." Fräulein Muthesius hätte den für sie entsetzlichen Ort am liebsten sofort wieder verlassen, aber ihre Knie schmerzten so, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Und so nahm sie wiederwillig auf dem Hocker Platz.
Danach geschah etwas, was Konstanze Muthesius noch nie von Männern erlebt hatte. Der dicke, vierschrötige Mann neben ihr schlug ihr auf's Hinterteil und sagte: "Na, son feines Püppchen jibt's nich alle Tage. Hast och ne nette Röcksche an, de Beene sin nich so toll und de Buse is platt, aber sonst: Bist ne nette Püppche. Lass uns...."
Fräulein Muthesius rutschte vom Barhocker herunter und ging auf den Ausgang zu.
Sie war fast schon an der Tür, als ein lautes Geräusch ihre Aufmerksamkeit erregte. Rechts neben dem Thresen befand sich versteckt eine Schiebetür, die mit lautem Quietschen von innen geöffnet wurde.
Fräulein Muthesius sah eine Hand mit einem Tablett voller Gläser, und die trug jemand, der offensichtlich Mühe hatte, die Balance zu halten.
Was dann folgte, sollte sie ihr Leben lang nicht vergessen: Die Frau bzw. das Mädchen mit den Gläsern war - Bianca.
Einen kurzen Augenblick lang sahen Lehrerin und Schülerin sich an. Fräulein Muthesius wurde blass und Biancas Hände begannen so zu zittern, dass das Tablett mit den vollen Gläsern laut krachend zu Boden fiel.
Fräulein Muthesius fing sich als Erste und sagte leise den Namen ihrer Schülerin vor sich hin: "Bianca" und noch einmal :" Bianca".
Mit dieser aber war inzwischen etwas vorgegangen, was ihrer Lehrerin später ungeheuerlich erschien. Von einem Augenblick auf den anderen war sie bis in die blonden Haarspitzen hinein rot geworden. Dann schrie sie auf: "Fräulein Muthesius" und kurz darauf mit einem Blick auf den dicken Mann hinter dem Thresen: "Papa!"
Der wiederum begann zu brüllen: "Die tollen Gläser, der gute Sekt. Das wird dich teuer zu stehen kommen. Das zahlst du mir und zwar sofort. Und jetzt ab an die Arbeit. Geh zu deinen Männern und verschwinde. Aber flott! Lass uns hier mit dieser Zuckerpuppe allein."
Er wandte sich Fräulein Muthesius zu, aber die war schon längst an der Tür: Weltfremd, naiv und vorgestrig, wie sie war, hatte sie doch genug gesehen, genug erlebt und - verstanden.
Wie sie nach Hause gekommen war, hätte sie später nicht mehr zu sagen gewusst, nur, dass die Männer von der Tankstelle wild an ihr Fenster klopften, als sie mit dem nunmehr intakten Auto wegfahren wollte und schrien: "Da hört sich doch alles auf. Die Lädi zahlt nicht."
Das war Konstanze Muthesius noch nie passiert, und so zückte sie ihr Portemonnaie und gab den Männern ihr Geld.
Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Fräulein Muthesius merkte es, als sie nichts sehen konnte und das In-Gang-Setzen des Scheibenwischers keine Wirkung zeigte. Ihr verschwommes Sehen konnte nicht am Regen liegen, sondern hatte wohl andere Ursachen. Sie sagte nichts und dachte nichts. Nur ab und zu murmelte sie die Worte: "Das arme Kind. Das arme Kind."
Zu Hause angekommen ging Konstanze Muthesius schnurstraks in ihre Speisekammer, holte eine Flasche Rotwein heraus, öffnete sie, setzte sie an den Hals und schüttetete den Alkohol in sich hinein - eine Handlungsweise, die, wie man sich vorstellen kann, bei ihr noch nie vorgekommen war.
Dann betrat sie das Wohnzimmer, baute sich vor dem Ölgemälde ihres Vater auf und rief: "Was hast du mir beigebracht? Ist das Bildung? Ich habe von nichts eine Ahnung!
Und du weißt nichts Besseres, als unbeweglich und kalt aus deinem Öl zu grinsen. Es reicht!"
Sprach's, stieg auf's Sofa, nahm das Gemälde von der Wand und stellte es nicht gerade sanft auf die Erde. Dabei sagte sie: "Der Goldrahmen ist auch das Hinterletzte! Ich werde ihn in den Flur verfrachten und dir einen anderen geben. Schluss!"
Dann legte sie sich - betrunken, wie sie war, - ins Bett und schlief bis weit in den nächsten Morgen hinein.
So fand sie auch die Haushälterin, die morgens kam und sich erschrak, als sie Konstanze Muthesius, die bekanntermaßen Frühaufsteherin war, noch im Bett vorfand. "Sind's krank?" sagte sie.
Und dann: S'isch was Schreckliches passiert. Das Bild von ihrem Herrn Vater, Herrn Direktor, hat der Sturm d'Nacht vom Hake g'haut."
"Der Sturm hat gar nichts g'haut. Ich habe das Bild herabgenommen. Und ich werde sofort aufstehen und einen neuen Rahmen kaufen. Wir hängen es in den Flur."
"Wos?" Frau Mitterzwei schrie auf: "Dös könnet Se net machenon. Dös isch ja ongeheuerlich. Wenn dös der Herr Doktor wüsst."
"Der weiß auch nicht alles," sagte Konstanze, sprach's, zog sich an und eilte mit den Worten: "Bin gleich wieder da", aus dem Haus.
Die Haushälterin blieb verstört zurück. Sie schlug die Hände vor's Gesicht und dicke Tränen kullerten über ihre gutmütigen, alten Wangen. "S'isch verrückt gewodern. Mei Stanzerl isch verrückt geworden. Mei, i hob ihr großzog'n, und jetzt isch's aus. Der arme Herr Doktor, der arme Herr Doktor."
Auch, als Frau Mutheius mit einem schlichten Holzrahmen zurückkam, war ihre alte Anna Mitterzwei noch verstört. Konstanze nahm sie, was selten vorkam, in die Arme und versuchte sie zu trösten. "Ist doch halb so schlimm. Ist doch alles halb so schlimm.
Sie beruhigen sich und dann hängen wir das Bild gemeinsam in den Flur."
So taten sie, und damit bin ich am Ende meiner Geschichte.
Bleibt nur noch nachzutragen, was sich die beiden Jungelehrerinnen eine Woche später am Telefon erzählten.
"Siehst du, ich habe Recht gehabt."
"Ich weiß: Die olle Mu hat als Einzige gegen einen Schulverweis von Bianca gestimmt. Und als alle dann dagegen argumentierten und dabei, wie ich finde, auch zu Recht aggressiv und unangenehm wurden, ist Konstanze Muthesius aufgestanden, hat laut und vernehmlich: "Leck mich" gesagt und ist rausgerannt. Unglaublich, aber wahr."
"Wie geht's denn weiter?"
"Weiß ich nicht. Bianca ist immer noch nicht zum Unterricht erschienen. Ob sie nun rausfliegt oder nicht, weiß der Himmel."
Mit diesen Worten beendeten die Junglehrerinnen das Gespräch über ihren Beruf und wandten sich ihrem Lieblingsthema zu, nämlich ihren jeweiligen Beziehungen, Freundschaften und Lieben, die sie in aller Ausführlichkeit voreinander ausbreiteten.
Fräulein Muthesius aber, von Natur aus anders als ihre jungen Kolleginnen, schwieg sich aus.
Und so kam es, dass von dem, was an jenem denkwürdigen Abend zwischen ihr und ihrer Schülerin vorgefallen war, niemals irgendein Mensch etwas erfahren hat.
Unveröffentlicht (2010)
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